Nichts ist sicher

Nov 1, 2020Allgemein

Gerade sehen wir es wieder ganz deutlich. Die Welt dreht sich und wird immer turbulenter. Die politische Situation ist wackelig und gefährlich. Nichts ist sicher.

Heute sind wir gesund, morgen krank. Ein lieber Mensch stirbt und nichts ist wie zuvor.

Alles ist im Wandel. Und doch sehnen wir uns so sehr nach Sicherheit und Verlässlichkeit. Meist sind wir uns mit dieser Sicherheit ganz besonders sicher.

 

Beim Shiatsu müssen wir das aufgeben.

Kontrolle und der Versuch, auf der sicheren Seite zu sein, steht im krassen Gegensatz zu dem, was unsere Shiatsuarbeit so kraftvoll macht. Der direkte Kontakt, von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz, mitten rein in die unvorhersehbaren Bewegungen des Lebens.

In den frühen Tagen meiner Shiatsupraxis habe ich mich oft festgehalten an den frisch gelernten Konzepten. Ich habe bestimmte Fragen gestellt, hatte einen relativ festen Behandlungsplan, mit dem ich mich durch die Sitzung bewegt habe, hatte meine Raster für die Befundung und wollte in einer Stunde eine richtig gute Behandlung geben. Wobei ich auch zu „gut“ eine konkrete Idee im Kopf hatte. All das gab mir Sicherheit und ließ mich mutig rausgehen mit meiner Arbeit.

 

Shiatsu ist authentische Begegnung

Doch all das wurde immer von meinen KlientInnen über den Haufen geworfen. Shiatsu ist authentische Begegnung. Nichts lässt sich festhalten in einer authentischen Begegnung. Und erst hier wird es so richtig spannend. Ein Fluss sucht sich seinen Weg, wenn er nicht eingemauert wurde. Oft sind wir überrascht von der neuen Richtung, die er einschlägt.

Doch auch die KlientInnen kommen meist mit festen Vorstellungen. Sie wollen eine Lösung für ihr Problem. Eine Lösung, die sie wieder in Sicherheit bringt. Und gerne auch eine Lösung die eine gewisse dauerhafte Gültigkeit hat. Sie wollen auch wissen, wie lange die Sitzung dauert, was sie denn „haben“, wie oft sie wieder kommen müssen und überhaupt, was genau Shiatsu eigentlich ist und kann. Wenn wir ganz ehrlich sind, können wir keine dieser Fragen beantworten, nichtmal im Ansatz. Wir wissen nichts. Wir projizieren einzig aus unserer Erfahrung und der Erfahrung anderer auf die Zukunft oder die aktuelle Situation. Doch von dem Leben, welches durch den Körper und das Wesen der Person, die zu uns in die Praxis kommt, zum Ausdruck kommt, haben wir nur eine vage Ahnung. Und das ist auch gut so. Hier kommen wir dem Shiatsugeist näher. Je mehr Sicherheit wir mit dem wollen, was wir tun, umso mehr beschränken wir unsere Möglichkeiten und natürlich auch die Möglichkeiten unserer Klienten. Ganz so wie in dem Bild mit dem eingemauerten Fluss.

Die Möglichkeit sind unendlich vielfältig und dem kann ich Raum geben im Shiatsu. Darum geht es viel mehr als um das Beheben eines Symptoms oder das Stillen eines Bedürfnisses.

Heute arbeite ich daher in erster Linie mit Prinzipien und nicht mit Behandlungskonzepten. Diese Prinzipien erden mich und binden mich an meine eigenen Fähigkeiten an, lassen auf der anderen Seite aber einen riesigen Entfaltungsspielraum.

Es gibt viele Prinzipien, die man im Shiatsu beherzigen kann. Und ich spreche nicht von dem Handwerk Shiatsu. Das Handwerk habe ich gelernt. Sprich: die Art der Berührung, die Technik, das in Verbindunggehen mit Resonanz, und und und.

Für mich sind es die Prinzipien, die meine Haltung betreffen, die entscheidend sind und prinzipiell in der Shiatsubegegnung da sein müssen.

 

Achtsamkeit – Liebe – Freiheit – Gelassenheit

Achtsamkeit… lässt mich wahrnehmen

Liebe… lässt mich in Verbindung gehen, von Herz zu Herz

Freiheit… lässt mich nichts festhalten

Gelassenheit… lässt mich im Frieden sein

 

 

Zwei Sitzungen können sich sehr unterschiedlich anfühlen und sogar ganz verschieden aussehen. Und jede Einzelne ist eine Überraschung, auf die ich nicht vorbereitet bin. Somit kann es auch keine Sicherheit geben. Nichts ist sicher. Nichtmal, ob die Klientin am Ende bezahlt und wieder kommt. Damit müssen wir leben. Es kann sogar sein, dass eine Klientin während meiner Behandlung einen Herzinfarkt oder einen epileptischen Anfall bekommt. Nichtmal meine Versicherung schützt uns davor. Jeder Schritt, den wir gehen, wird gefolgt von einem neuen Schritt. Schon der übernächste Schritt ist kaum noch zu erfassen, geschweige denn zuverlässig zu planen.

Also lasst uns good bye sagen zur Scheinsicherheit. Shiatsu ist ein wundervolles Feld, dies zu üben und darin sicherer zu werden 😉


Autor: René Fix, Leiter des kiCollege