Die Sprache der Seele

Okt 30, 2019Allgemein

Er hat volles Haar, trotz seines Alters. Wann immer er das Gefühl hat, dass sein Haar zerzaust ist, schiebt er es sanft an seinen Platz zurück, denn das Haar muss in Ordnung sein, es ist, was seinen Kopf nach oben hin verschließt und nicht zulässt, dass seine endlosen Gedanken, das Geräusch von quietschenden und kreischenden Stimmen und das Geräusch von panisch herumfliegenden Vögeln sich in dem Raum auflösen, der über ihm klafft.
Er weiß, dass die Gedanken in ihrem Käfig herumflattern, also in seinem
Kopf, und wenn nur, selbst für einen Moment, das Haar nicht an seinem Platz ist, werden sie in alle Richtungen davonflattern, und der Körper, den sie verlassen, wird leer sein und sein Inhalt wird im Raum versickern, selbst in den kleinsten Zwischenräumen auf der Fläche unter seinen Füßen, egal wo er sich aufhält oder worauf er steht oder liegt, wo immer sich ein Zwischenraum findet, dorthin wird er verschwinden.

Rami Yulzari

Diese Beobachtung hat Rami Yulzari, ein Shiatsutherapeut aus Israel, sehr poetisch niedergeschrieben in einem noch nicht veröffentlichten Text „Pictures in a Treatment Room“. Sie kann uns eine erste Ahnung davon vermitteln, worum es bei der Sprache der Seele geht: Die Seelensprache gebraucht neben Worten noch viele andere Zeichen und Symbole – hier zum Beispiel eine Geste. Sie ist oft völlig unbewusst, kann aber auch bewusst gemacht und bewusst eingesetzt werden. Sie folgt nicht unbedingt der Logik von Ursache und Wirkung. Ihre Bedeutung hat viele Schichten und Facetten. Dass der Mann in seinem Alter noch so viele Haare hat, wird zunächst einmal physiologische Gründe haben. Und dass er seine Frisur immer wieder ordnet, hat vielleicht auch den Aspekt, dass ihm die Haare ins Gesicht hängen und stören oder dass er „ordentlich“ aussehen möchte. Und gleichzeitig kann diese Geste noch auf vieles andere aus dem Seelenraum des Mannes hinweisen, vielleicht seine Angst davor, den Halt zu verlieren und sich in Nichts aufzulösen. Und der „Zuhörer“ der Sprache folgt in seiner Wahrnehmung seinen eigenen Assoziationen und nimmt jeweils nur einen – vielleicht sogar verzerrten – Ausschnitt wahr von dem, was die Seele gerade zum Ausdruck bringt.

Auch wird schon hier sichtbar, dass die Sprache in zwei Richtungen wirkt. Sie bringt etwas Seelisches zum Ausdruck, hier in Form einer Geste, die auch vom Beobachter wahrgenommen und gedeutet wird. Gleichzeitig wirkt etwas Äußeres, das geordnete Haar, auf die Seele ein, bringt ihr vielleicht Sicherheit. Später wird dies an weiteren Beispielen, z.B. (inneren und äußeren) Bildern oder Musik noch deutlicher werden.

Was soll „Seele“ bedeuten in diesem Zusammenhang?

Ganze Bibliotheken füllen sich mit Abhandlungen zu diesem Thema, doch führen akademische Auseinandersetzungen uns hier wirklich weiter? Ich möchte den Begriff Seele bewusst vage lassen, weist er doch auf etwas hin, das sich scharfen Eingrenzungen entzieht.
Umgangssprachlich bedeutet „Seele“ meist die Gesamtheit der emotionalen und geistigen Vorgänge in einem Menschen. Gleichzeitig weist der Begriff oft auf eine Instanz hin, die all diesen psychischen Vorgängen zugrunde liegt, ihnen Struktur gibt und verbunden ist mit transpersonalen Bereichen, also Bereichen, die über den einzelnen Menschen hinausreichen. Lassen wir es dabei bewenden und wenden uns zunächst weiter den Ausdrucksformen des Körpers zu.

 

Körper und Seele im Wechselspiel

Wir alle kennen solche Vorgänge: Es ist früher Abend. Das zweijährige Kind, das den ganzen Nachmittag voll Energie und bester Laune war, fängt an zu quengeln. Alles ist nicht richtig, es verlangt nach etwas zu trinken, nein, kein Wasser, sondern Saft, nein, keinen Orangensaft, sondern Apfelsaft, nein, nicht aus dem Glas, aus der Tasse, der Apfelsaft schmeckt gar nicht….. Ja: Müde Menschen werden oft unleidlich.

Oder: Sie haben lange nichts gegessen. Nun müssen Sie noch einkaufen. Sie laufen ziellos durch den Supermarkt und können sich nicht entscheiden, was Sie heute Abend kochen wollen. Vielleicht packen Sie sich den Einkaufswagen wahllos randvoll mit Dingen, die Sie gar nicht brauchen und normalerweise nie kaufen würden. Ja: Unterzuckerung vermindert die Entscheidungsfähigkeit.

Oder: Ein bisher völlig gelassener Mensch entwickelt eine Überfunktion der Schilddrüse. Er wird immer ungeduldiger, reizbarer und schimpft über jede Fliege an der Wand.

An diesen Beispielen zeigt sich, wie stark körperliche Vorgänge auf das Seelenleben einwirken. Doch dies soll hier nicht unser vorrangiger Fokus sein, denn es geht uns ja um die Sprache der Seele, also die Frage, wie die Seele sich über körperliche Vorgänge zum Ausdruck bringt. Dabei wissen wir genau, wie wechselseitig und wie wenig zu trennen die Beziehungen zwischen Körper und Seele sind.
Schauen wir uns nun die Körpersprache etwas genauer an.

Schon in der Körperhaltung, in der Körperspannung und im Tempo der Bewegungen zeigt sich dem genauen Beobachter, wie es einem Menschen gerade geht. Läuft der Mensch krumm oder aufrecht? Hält er den Kopf schief, gebeugt oder hoch? Ist der Körper angespannt oder schlaff? Sind die Bewegungen schwungvoll, langsam, zügig, fahrig oder zitterig? Ist die Armhaltung verschränkt oder offen? Sitzt er breitbeinig da oder mit verschränkten Beinen?

Viele Forschungsergebnisse weisen auf die Bedeutung der Körpersprache hin. Anfang der 1970er Jahre zum Beispiel stellte der amerikanische Psychologe Albert Mehrabian die 7-38- 55-Regel auf. Sie besagt, dass nur 7% einer Information den Empfänger über die mündliche Sprache erreicht, 38% über die Qualität der Stimme und 55% über die Körpersprache. Dieses Wissen wird in Bewerbungs- und Verkaufsgesprächen, Reden, Verhören usw. oft bewusst oder auch unbewusst eingesetzt.

Ganz wichtig zu bedenken ist Folgendes: Für die Körperhaltung gilt wie für jede andere Ausdrucksform, für jedes Symbol: Die Bedeutung ist nicht eindeutig festgelegt. Zwar werden kulturübergreifend viele Körperhaltungen, Gesten, Gesichtsausdrücke oft ähnlich verstanden und haben auch genetische Komponenten, doch für den einzelnen Menschen kann einem bestimmten Körperausdruck eine ganz persönliche Bedeutung zukommen, die sich vom allgemeinen Verständnis klar unterscheidet.

So gilt es immer genau hinzuspüren und nachzufragen: Wie geht es dir, wenn du so gebeugt sitzt, wenn du so breitbeinig dastehst, wenn du denn Kopf schief hältst? Was würde diese Haltung sagen, wenn sie sprechen könnte? Versuche einmal, diese Haltung zu übertreiben. Wird etwas deutlich? Interessant kann es auch werden, wenn man versuchsweise einmal die Haltung ändert und nachspürt, ob und wie sich das auf Stimmung oder Energetik auswirkt.

Auch „Gesten sind sichtbar gewordene Gedanken,“ sagt der Pantomime Marcel Marceau. Ich würde den Satz gerne ausweiten auf Gefühle, Stimmungen und Visionen. Sie können bewusst als Signal eingesetzt werden, z.B., wenn man jemanden herbeiwinkt, oder unbeabsichtigt Informationen übermitteln, z.B. wenn jemand gähnt oder sich am Kopf kratzt.

Gesten sind stark kulturell überformt und führen leicht zu Missverständnissen. Bilden wir mit dem Daumen und dem Zeigefinger ein O, so bedeutet das in Nordamerika und auch in Deutschland „okay“, in Frankreich hingegen „null“ oder „wertlos“, in Japan ist es ein Zeichen für „Geld“. Hüten sollte man sich vor dieser Geste in Russland oder in Lateinamerika. Dort hat sie einen stark sexuellen Bezug.

Und ein und dieselbe Geste kann je nach Situation oder Person ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen. Das Zurechtrücken der Haare im Beispiel oben kann insbesondere bei Frauen auch ein Flirtsignal sein oder einfach eine Abfuhr von Spannungen wie es bei kleinen Kindern das Daumenlutschen ist.

Auch zum Verständnis von Gesten trägt es bei, wenn man ihnen einmal nachspürt oder wenn man sie versuchsweise kräftig übertreibt.

Emotionspsychologen wie Paul Ekman und Carrol Izard sind sich heute weitgehend einig, dass es grundlegende Emotionen gibt, deren mimischer Ausdruck weltweit und kulturunabhängig verstanden wird. Dazu gehören Trauer, Wut, Freude, Ekel, Überraschung, Verachtung und Angst. Der Ausdruck ist genetisch verankert und braucht nicht gelernt zu werden. Dennoch gibt es auch hier kulturelle und individuelle Überformungen. Denn es ist kulturell und individuell durchaus unterschiedlich, inwieweit eine Emotion ausgedrückt oder aber maskiert wird. Und dann findet man ja auch Mischungen von mehreren Emotionen, deren Ausdruck sich gegenseitig überlagert, vermischt oder gegenseitig aufhebt.

Abbildungen zum Ausdruck grundlegender Emotionen finden sich in dem Buch „Die Emotionen des Menschen“ von Carrol Izard, das ich vor vielen Jahren übersetzt habe. Hier sind einige Beispiele:

Um einen Gesichtsausdruck zu verstehen gibt es neben der genauen Beobachtung und dem Abgleich mit bisherigen Erfahrungen auch die Möglichkeit, ihn zu kopieren, evtl. zu übertreiben und nachzuspüren, welche Emotionen sich einstellen.

Wer sich noch genauer mit dem Thema Körpersprache befassen möchte, findet interessante Artikel und Links auf folgender Webseite:
https://www.dasgehirn.info/handeln/mimik-koerpersprache/reden-ohne-worte

Auch durch die Stimme kann sich die Seele bemerkbar machen. Die gleichen Worte können eine unterschiedliche Bedeutung haben, je nach Lautstärke, Stimmlage, Geschwindigkeit, Betonung usw. Auch können ganz unterschiedliche Facetten eines Menschen zum Ausdruck kommen, je nachdem, welche Sprache er benutzt: Deutsch, Italienisch, Japanisch, Arabisch…. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Bedeutungsräumen, die Wörter in unterschiedlichen Sprachen erschließen, sondern auch an der Sprachmelodie und an der in der jeweiligen Sprache üblichen Lautstärke.

Dem, was sich über die Stimme zum Ausdruck bringen möchte, kann man sich zum Beispiel über das Kauderwelsch nähern: Versuchen Sie einmal, das was Sie gerade bewegt, ohne Worte in Kauderwelsch auszudrücken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie selbst und auch Ihr Gegenüber die Bedeutung dessen, was gesagt werden will, durchaus erfassen, auch wenn die einzelnen Worte oder Sätze keinerlei Inhalt haben.

Um Ihnen einen Zugang zu dem Thema Körperempfindungen und Körpersymptome als Ausdruck der Seele zu ermöglichen, schlage ich Ihnen eine kleine Übung vor:

Machen Sie es sich bequem und denken Sie an einen beliebigen Menschen aus Ihrem Bekanntenkreis, der in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt. Nennen wir ihn Christoph. Zoomen Sie diesen Menschen und Situationen, die Sie mit ihm verbinden, so nah wie möglich heran. Und nun achten Sie auf das Körpergefühl, das sich bei Ihnen einstellt, sozusagen die innere Aura. Dieses Gefühl umfasst „alles über Christoph“. Wiederholen Sie diesen Vorgang mit einem anderen Menschen, vielleicht Rita. Achten Sie auch hier auf das Körpergefühl von „alles über Rita“, das bei Ihnen entsteht. Sie werden feststellen, dass es dabei nicht um eine Aneinanderreihung von einzelnen Daten geht wie Körpergröße, Augenfarbe oder Stimme, sondern dass dieses Gefühl alles umfasst, was Sie momentan bezüglich Rita oder Christoph wissen und fühlen.

Diese Übung stammt von Eugene Gendlin. Er nennt das allgemeine, umfassende Körpergefühl, welches sich zu einer Situation, einer Person oder einem Problem einstellt „Felt Sense“ und hat eine Methode entwickelt, mit diesem Körpergefühl umzugehen und als Ausdruck der Seele zu verstehen. Diese Methode der Selbstwahrnehmung nannte er Focusing.

Ganz kurz umrissen geht es beim Focusing um 6 Schritte:

  1. Einen Freiraum schaffen: Fragen Sie sich, was Sie im Leben gerade besonders beschäftigt oder prüft. Lassen Sie spontan aufsteigen was sich als erstes meldet. Sagen Sie zu sich selbst: “Ja, diese Angelegenheit gehört auch zu meinem Leben, aber für einen Moment setze ich sie erst einmal ab“. Schaffen Sie innerlich einen kleinen Abstand zwischen sich und der Angelegenheit, vielleicht indem sie sie vor ihrem inneren Auge gut sichtbar in ein Regal stellen. Gibt es mehrere Dinge, die auftauchen, verfahren Sie damit der Reihe nach genauso.
  2. Einen Felt Sense kommen lassen: Wählen Sie eine der Angelegenheiten aus, mit der Sie sich nun näher beschäftigen möchten und nehmen Sie das komplexe Körpergefühl wahr, das damit verbunden ist.
  3. Den Felt Sense beschreiben, einen „Griff“ finden: Was für ein Bild, Wort oder Satz entsteht aus diesem Körpergefühl? Oder gibt es vielleicht eine Geste oder ein Gesichtsausdruck?
  4. Genauern: Gehen Sie mit ihrer Aufmerksamkeit zwischen dem Körpergefühl und dem Bild/Wort/Satz hin und her, bis ein kleines körperliches Signal („Body Shift“) ihnen sagt, dass es genau passt.
  5. Hineinfragen: Nun lohnt es sich, direkt in den Felt Sense hinein offene Fragen zu stellen, ohne den Denkapparat großartig zu bemühen. Fragen könnten sein: „Was ist das Eigentliche an der Angelegenheit, der Situation, dem Problem….?“ „Was ist das Schlimmste daran?“
    „Was ist das Beste daran?“
    „Wenn das Gefühl/das Symptom, das Knie….. sprechen könnte, was würde es sagen?“
    „Was braucht das Gefühl/der Felt Sense?“
    „Was wäre ein guter erster Schritt?“
    Ein „Body Shift“ wird Ihnen sagen, welche Antworten aus einer tieferen Wahrheit aufgestiegen sind.
  6. Aufnehmen und tiefer werden lassen: Nun können Sie innehalten und das, was sich in dem Prozess gezeigt hat, erst einmal auf sich wirken lassen Mit welchem Bedürfnis sind Sie in Kontakt gekommen?

 

Traumtheater

Für C.G. Jung, den Begründer der analytischen Psychologie, war der Traum der Botschafter des Unbewussten schlechthin.

Welche Funktionen genau hat der Traum aus seiner Perspektive?

  • Der Traum kompensiert oder ergänzt, was im Leben nicht ausreichen vorkommt. Ein sehr friedlicher, bezogener Mensch träumt z.B. von einem Haifisch, der den Gegenpol der Aggression sichtbar werden lässt.
  • Im Traum reguliert sich die Persönlichkeit. Menschen, die am Träumen gehindert werden, sind spätestens nach drei Tagen wie „neben sich“. Wie sinnvoll es ist, mit seinen Träumen gut in Kontakt zu sein, zeigt ein Experiment am C.G. Jung Institut Los Angeles: Man untersuchte eine Gruppe von Menschen, die ihre Träume regelmäßig aufschrieben und sich ab und zu an sie erinnerten, ohne sie weiter zu deuten. Es zeigte sich, dass diese Gruppe seelisch erheblich ausgeglichener war als die Teilnehmer der Kontrollgruppe, die ihre Träume nicht aufschrieben und ihnen keine Beachtung schenkten.
  • Der Traum bildet die seelische Gesamtlage ab. Wer kämpft gerade mit wem; wer bewegt sich von A nach B; welche Prozesse finden aktuell statt?

 

Aus welchen Quellen speist sich der Traum?

  • Aus dem persönlichen Unbewussten
  • Aus dem familiären Unbewussten: Der Traum kann die Dynamik im Familiensystem
    abbilden.
  • Aus dem kollektiven Unbewussten: Menschen träumen über ihre persönliche
    Wahrheit hinaus etwas, das zum Zeitgeist passt und eine allgemeine Gültigkeit hat.
    Wie kann ich der Bedeutung eines Traumes erfassen?
    Einfache Möglichkeiten sind:
  • Den Traum aufschreiben und einfach auf sich wirken lassen
  • Freie Assoziation: Was fällt mir spontan ein zu dem Traum bzw. zu einzelnen Bildern?
  • Imagination: Den Traum neu bildhaft erleben, neu eintauchen.
  • Sich den Teil heraussuchen, in dem besonders viel Energie steckt, also der mich
    besonders berührt. Diesen genauer betrachten.
  • Identifikation: Sich in einzelne Symbole hineinversetzen, sie von innen fühlen, z.B.:
    ich als Auto/Schiff/Hans-Joachim…. Wie fühle ich mich? Was brauche ich? Wo soll es
    mit mir hingehen?
  • Energiemalerei: Sie kann besonders lohnend sein bei einem Traum oder einzelnen
    Symbol, zu dem man zunächst zu schwer Zugang bekommt.
    Vorsichtig sein sollte man meiner Meinung nach mit Symbollisten und Traumbüchern, die einem genau sagen wollen, welch Bedeutung dieses oder jenes Symbol genau hat. Bei allem Respekt vor der jahrhundertelangen Erfahrung mit vielen Symbolen: immer gilt es vor allem zu schauen: Was bedeutet dieses Symbol in diesem Augenblick für diesen einzelnen Menschen? Das kann von der kulturell überlieferten Bedeutung durchaus abweichen.

 

Im Schatten

Der Traum ist nicht der einzige Botschafter aus dem Unbewussten, dem Schattenreich, das die bewusste Wahrnehmung gerne ausblendet. Im Schatten liegen viele Bedürfnisse, Potenziale und Erfahrungen, die wir zumindest in ihrer barbarischen Form nicht annehmen wollen. Gelingt es uns aber, sie wahrzunehmen und in angemessener Form zu integrieren, gewinnen wir erheblich an Lebendigkeit. Im Schatten liegt oft, was in meinem Leben nicht ausreichend Raum hat. Sehe ich es bei anderen Menschen, regt es mich leicht auf oder aber es fasziniert mich. Häufig ist der Schatten ambivalent. Das, was ich in seiner übersteigerten Form ablehne (z.B. Rücksichtslosigkeit), fasziniert mich in seiner abgemilderten Variante (z.B. Souveränität). In jedem Fall kann es eine befreiende und vitalitätssteigernde Medizin sein, aus den Potenzialen des Schattens zu schöpfen.

Wenn man seinen Schatten annimmt ist es, als ob man von einer Zweizimmerwohnung in eine Fünfzimmerwohnung zieht.

Ken Wilber

 

Welche Wege des Schattenerforschung gibt es noch, abgesehen von der Beschäftigung mit Träumen?

  • Witze zum Beispiel bieten einen guten Zugang zum Schatten. Welche Witze erzähle ich gern? Welche lehne ich ab? Themen sind oft Sexualität, Promiskuität, Dummheit, Brutalität, Langsamkeit. Menschen, die ihre eigene Dummheit fürchten wie der Teufel das Weihwasser, erzählen zum Beispiel oft besonders gerne Witze über Ostfriesen oder Mantafahrer.
  • Eine gute Spur ist immer, dem nachzugehen, was mich an anderen Menschen berührt, sowohl sehr positiv als auch sehr negativ. Verhält sich jemand zum Beispiel besonders Raum greifend und dominant, dann kann ich das zur Kenntnis nehmen, ohne mich weiter damit zu beschäftigen. Dann ist es für mich persönlich kein Thema. Ich kann mich aber auch heftig darüber aufregen oder aber eine große Bewunderung verspüren. In diesem Fall könnte ich einmal der Frage nachgehen, ob ich mir selbst in meinem Leben ausreichend Raum nehme und auf die Bereiche Einfluss nehme, die für mich wichtig sind. Ist dem nicht so, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich unbewusst zu dem Mittel der Projektion greife.
  • Einen besonders sensiblen Umgang erfordert die Erforschung dessen, was mir im Außen als „Schicksal“, als „sinnvolle Zufälle“ oder an als Synchronizitäten (Dinge, die gleichzeitig passieren, ohne in einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen) entgegenkommt. Beispiel: Ich habe einen wichtiges Bewerbungsgespräch. Als ich losfahren will, ist kein Benzin mehr im Tank, dann stehe ich im Stau und schließlich finde ich keinen Parkplatz. Wenn ich dem nachgehe, kommt es einzig und allein darauf an, welche Bedeutung dieser Aneinanderreihung von Hindernissen für mich selbst stimmig erscheint, und das kann ich weniger auf logischem Weg in Erfahrung bringen als über das Bauchgefühl. Kluge Meinungen von außen können manchmal einen Hinweis bieten, oft führen sie aber auf eine falsche Fährte oder verwirren nur.

 

Kreativer Ausdruck

Gibt es weitere Möglichkeiten für die Seele, sich zu äußern? Nun, manch einer kann weniger im direkten Gespräch zum Ausdruck bringen, was ihm auf der Seele liegt, als mit Hilfe von Metaphern, Märchen oder Gedichten. Für wieder andere ist die Sprache überhaupt nicht das geeignete Medium, wohl aber die Musik, die Malerei, die Bildhauerei oder der Tanz. Und wieder gibt es hier zwei Wege der Kommunikation. Die Seele kann diese Medien nutzen, um sich zu äußern. Oder ich kann diese Kunstformen auf mich wirken lassen und dem nachspüren, was sie in mir berühren und in Bewegung bringen.

Lesen Sie doch bei Gelegenheit noch einmal eines Ihrer Lieblingsmärchen. Welche Szene oder welche Figur berührt Sie besonders? Welche ist Ihnen eher gruselig? Haben Sie Lust, sich dieser Figur für einen Moment zu identifizieren? Wie ist das so als Dornröschen oder als Rumpelstilzchen, als Jäger oder als Zwerg? Welches Bedürfnis verspüren Sie dann? Welches Thema oder Lebensmotto? Ich persönlich war immer wieder fasziniert von Rotkäppchen, das die Warnungen der Mutter in den Wind geschlagen und durchaus einmal vom Weg abgegangen ist. Oder auch vom Jäger als ordnende, fürsorgliche Figur. Übungen dieser Art können zu erhellenden Erfahrungen oder Einsichten führen.

Auf ähnliche Weise kann man Musik, Malerei oder Fotografie nutzen. Man kann sich über Musik oder Malerei ausdrücken, man kann sich aber auch fragen: welches Musikstück oder welches Bild rührt mich irgendwie an? Welche Emotionen, welche Assoziationen, welche Gedanken steigen auf?

 

Erste Schritte

Eine Vielzahl von „Dialekten“ der Seelensprache habe ich Ihnen nun vorgestellt. Manche werden Ihnen leicht zugänglich sein, andere werden Sie kaum verstehen. Und die Liste lässt sich mit Sicherheit noch erweitern und differenzieren. Wie können wir diese Dialekte sinnvoll nutzen? Mein Vorschlag ist: Machen Sie es sich zunächst einmal zur Gewohnheit, denjenigen Dialekten immer wieder genau zuzuhören, die sie bereits gut verstehen. Dem einen sagen Körperempfindungen viel, dem anderen Träume oder das Minenspiel. Schon so kann sich Ihr eigener Erfahrungsraum enorm erweitern und Sie erfassen auch schneller, was andere Menschen wirklich ausdrücken möchten. Nach und nach experimentieren Sie dann mit weiteren Dialekten, alleine oder mit Unterstützung durch einen Therapeuten.

Je besser wir der Seele zuhören können, desto klarer verstehen wir, wer wir wirklich sind, desto weniger leben wir mit unserer Alltagspersönlichkeit an unserer Seele vorbei und desto tiefer wird der Kontakt zu anderen Menschen.

Gute Gründe, der Seele und ihren Ausdrucksformen Aufmerksamkeit zu schenken. Dafür braucht es Entschleunigung und Stille.

 

Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für allemal ist, sondern er ist ein Weg.

Karl Jaspers

 

Autorin: Barbara Murakami, Shiatsupraktikerin und -lehrerin in Düsseldorf, www.shiatsu-murakami.de