Die Kraft der Symbole

Jun 29, 2020Allgemein

Ich halte die Symbolsprache für die einzige Fremdsprache, die jeder von uns lernen sollte.

Erich Fromm

 

Die Kraft der Symbole

von Barbara Murakami

Wenn sich im antiken Griechenland zwei Freunde für längere Zeit trennten, zerbrachen sie gemeinsam ein Tontäfelchen, eine Münze oder einen Ring. Trafen sie oder Menschen aus ihren Familien sich nach langer Zeit wieder, fügten sie die beiden Hälften aneinander. Wenn sie genau passten, war dies ein Hinweis darauf, dass es sich tatsächlich um den alten Freund handelte und dass dieser ein Recht auf Vertrauen und Gastfreundschaft hatte. Symbàlein bedeutet auf Griechisch zusammenfügen. Erst wenn die beiden Hälften zusammengefügt sind, weisen sie auf die alte Freundschaft hin, werden sie zum sichtbaren Symbol für etwas Ideelles, Unsichtbares, Inneres.

Was also ist ein Symbol in unserem heutigen Sprachgebrauch?

❖  Im Symbol gewinnt ein vielschichtiger, in seiner Ganzheit häufig nur schwer erfassbarer Sachverhalt eine Gestalt. Man kann auch sagen: Ein Symbol verdichtet eine komplexe Bedeutung und verbindet gegensätzliche, oft paradox erscheinende Aspekte einer Sache zu einer neuen Einheit.

❖  Auffällig an Symbolen ist ein häufig bei näherer Betrachtung zu beobachtender Bedeutungsüberschuss. Das heißt: Es kann viele Bedeutungen gleichzeitig haben. Es lassen sich immer neue Facetten erkennen, und vollständig begreifen werden wir seine Bedeutung wohl nie.

❖  Bildlich gesprochen ist ein Symbol ein Gefäß für seelische Energie. Seelische Energie strömt in eine Gestalt ein und bildet so etwas Unbewusstes ab. Etwas bislang Unsichtbares, nicht Greifbares bekommt eine Form.

❖  Zum Symbol kann jede wahrnehmbare Gestalt werden:

o ein Bild
o eine Tonfolge
o ein Wort
o eine Geste oder eine Handlung
o eine Körperwahrnehmung oder ein Symptom o ein Geruch
o eine Farbe
o jeder Gegenstand
o Menschen, Tiere
o das Wetter…..

Ist ein Symbol also dasselbe wie ein Zeichen? Nein!
Zwar sind Zeichen auch stellvertretend für etwas, aber sie sind durch Abmachungen eindeutig festgelegt und haben keinen Bedeutungsüberschuss. Ein roter Kreis auf einem weißen Untergrund heißt nach der Straßenverkehrsordnung nichts anderes als „Durchfahrt verboten“. Die Zahl 5 bedeutet fünf Einheiten von irgendetwas. Und Logos verweisen auf ganz bestimmte Unternehmen oder Marken.

Es ist allerdings durchaus so, dass auch Zeichen zu Symbolen werden können. Die Zahl 13 gilt in vielen Kulturen als Unglückszahl, was dazu führt, dass manche Hotels oder Krankenhäuser keine Zimmer mit der Nummer 13 haben oder manche Hochhäuser keinen 13. Stock. In Japan hat die Zahl 4 diese Funktion, wohl deshalb, weil 4 auf Japanisch shi heißt und shi neben vier auch Tod bedeutet. Dementsprechend wird in Japan bei vielen Wohnhäusern und Parkplätzen die Nummer 4 ausgelassen. Für diese Furcht vor der Zahl 4 gibt es sogar einen wissenschaftlichen Namen: Tetraphobie.

Wo treffen wir auf Symbole?

Wie gesagt: jede wahrnehmbare Gestalt kann zum Symbol werden. Dabei hat ein Symbol mindestens zwei Gesichter: Wir können spontan Symbole hervorbringen, z.B. im Traum, im Tagtraum, in einer Geste oder Handlung. Und wir können unsere psychische Energie auf etwas außen Vorhandenes projizieren. So wird ein Ehering zum Symbol für den Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung, ein Brillant zum Symbol für den Wunsch nach mehr Glanz im Leben.

Symbole begegnen uns besonders häufig in Märchen, in der Literatur, in der Kunst, in der Musik und sehr ausgeprägt im Traum.
Dabei kann man mit drei verschiedenen Brillen auf die Suche nach Symbolen gehen. Man kann suchen nach kulturell weit verbreiteten Symbolen, die das kollektive Unbewusste einer ganzen Kultur hervorgebracht hat und die von vielen Menschen ähnlich verstanden werden: so ist der Baum für viele Menschen ein Sinnbild für Wachstum, Entwicklung und seelische Reifung, der Berg ein vielschichtiges Symbol für Aufstieg, Bewältigung von Herausforderungen, das Reifen der Persönlichkeit wie auch für die verschiedenen Ebenen des Erwachens von Bewusstsein.

Sehr lohnend ist auch die Verwendung einer zweiten Brille: Wir können die Symbole, die uns in Märchen, in der Literatur oder im Alltagsgeschehen begegnen, dahingehend untersuchen, was sie in uns persönlich auslösen, wie sie uns berühren, wofür sie für uns persönlich ein Symbol sein können. Manchmal biete ich mit meinem Kollegen Marcus Freund Märchenabende an, bei denen wir jeweils ein Märchen auf uns wirken lassen und uns darüber austauschen, welche Passagen uns persönlich besonders angesprochen haben. Beim Märchen „Rotkäppchen“ waren manche Teilnehmer eher fasziniert von dem Abenteuer „vom Wege abzugehen“, während andere angezogen waren von der Gestalt des Jägers als jemandem, der beschützt und die Ordnung aufrechterhält. Zum Symbol und zum Impuls für eine Weiterentwicklung wird immer das, was eine Analogie zur aktuellen Seelenlage aufweist.

Mit einer dritten Brille schließlich können wir ganz persönliche Symbole wahrnehmen, z.B. Alltagsgegenstände oder bestimmte Orte, die nur für uns selbst eine symbolische Ladung haben.

 

Welche Symbole sind weit verbreitet?

Roberto Assagioli, der Begründer der Psychosynthese, hat in der Therapie sehr häufig mit Symbolen gearbeitet. Er teilt die Symbole in sieben Kategorien ein:

  1. Natursymbole, z.B. Feuer, Berg, Fluss, Diamant, Sonne, Rose, Lotus…..
  2. Tiersymbole, z.B. Löwe, Schlange, Adler, Taube, Wolf, Raupe-Puppe-Schmetterling(als Symbole der Transformation)…
  3. Menschliche Symbole, z.B. Vater, Mutter, Kind, weise Gestalt, König, Geburt. Tod…
  4. Menschengemachte Symbole, z.B. Brücke, Haus, Kerze, Treppe, Schwert,Leuchtturm…
  5. Religiöse und mythologische Symbole, z.B. Christus, Gott, Engel, Tempel, Buddha, griechische Götter, die Nibelungen…
  6. Abstrakte Symbole, z.B. Zahlen (eins für Einheit, zwei für Polarität…), Dreieck, Kugel, Stern, Spirale…
  7. Individuelle und spontane Symbole, die in Träumen, Tagträumen oder während einer Therapiesitzung auftreten.

 

Welche Funktion haben Symbole?

Nach Assogioli haben Symbole zunächst einmal die grundlegende Funktion, Akkumulator zu sein und wie bei einem elektrischen Akku die in diesem Fall seelische Energie zu speichern und zu erhalten. Eine weitere sehr wichtige Funktion ist die eines Transformators. Das Symbol wandelt die ungeformte seelische Energie um in eine verstehbare und kommunizierbare Gestalt. Eine dritte Funktion des Symbols ist die eines Konduktors (Leiters). Es lenkt die seelische Energie in eine bestimmte Richtung und kann damit beitragen zu einer Integration des Seelenlebens. Das Symbol zieht also zunächst einmal seelische Energie an und speichert sie, transformiert sie anschließend und setzt sie im besten Fall für verschiedene Zwecke ein, besonders zur Integration und Weiterentwicklung.

Wie lassen sich Symbole in der Therapie und in der Selbstbegleitung nutzen?

Die Arbeit mit Symbolen ist gleichzeitig diagnostisch und therapeutisch lohnend. Diagnostische Einsichten kann man z.B. gewinnen, wenn man diejenigen Symbole genauer betrachtet, die das Unbewusste uns spontan schickt in Träumen, Tagträumen, Körpersymptomen… Welche psychische Dynamik, welches Bedürfnis könnte hier einen Niederschlag finden? Man kann auch eine Auswahl von Symbolen anbieten und abwarten, von welchem Symbol eine besondere Faszination ausgeht. Speziell Tiersymbole lassen sich gut verwenden um zu erfahren, mit welchem Tier (d.h. mit welcher Eigenschaft) eine Person gerade stark identifiziert ist oder welche Qualität in ihrem aktuellen Leben gebraucht wird.

 

Therapeutisch lassen sich Symbole auf verschiedene Weisen einsetzen:

  1. Man nennt und beschreibt einfach ein Symbol und nutzt es zur Erklärung seelischer Vorgänge.
  2. Man fordert den Klienten auf, sich ein inneres Bild eines bestimmten Symbols vorzustellen Man gibt das Symbol also vor und erschließt es gemeinsam mit dem Klienten. Man lässt es genau beschreiben, geht den Assoziationen und Gefühlen nach, die das Symbol auslöst und erspürt die Richtung und Dynamik, die das Symbol im Leben des Klienten haben kann. Das Symbol wirkt in diesem Fall als Projektionsfläche für die aktuelle Seelenlage und als Katalysator für mögliche Weiterentwicklungen. Das Unbewusste gestaltet das Symbol immer so, wie es der individuellen Situation des Klienten entspricht.
  3. Man legt dem Klienten ein Bild des Symbols vor und arbeitet wie bei 2.
  4. Man lässt den Klienten das Symbol malen. Auch hier kann man es anschließend wie bei 2 untersuchen.
  5. Man erschließt den Gehalt spontan auftretender Symbole wie unter 2 beschrieben.

 

Ein Beispiel für einen vielschichtigen Umgang mit einem Symbol:
Neben den oben bereits erwähnten Märchenabenden veranstalte ich hin und wieder in Kooperation mit Marcus Freund Seminarreihen zum Thema „Die Sprachen der Seele“. An einem Abend luden wir die Teilnehmer ein sich vorzustellen, sie begeben sich in ein großes Autohaus. Sie dürfen sich in Ruhe die vielen verschiedenen Modelle anschauen. Irgendwann kommen sie in einen Bereich, der mit einem roten Seil abgetrennt ist. Dort ist ein großes Schild zu sehen: Mein Traumauto. Dieses Auto dürfen sie nun von allen Seiten betrachten, sie dürfen es anfassen, sich hineinsetzen und eine Probefahrt damit machen. Und, was für eine Überraschung! Sie dürfen es sogar behalten, denn sie haben in einem Preisausschreiben gewonnen. Wie ist das, mit solch einem Auto zu fahren? Was für eine Atmosphäre geht von dem Auto aus? Was für ein Lebensgefühl vermittelt es? Spannend war, dass vor dem inneren Auge der meisten Teilnehmer spontan Autos erschienen, die sie sich im realen Leben nie kaufen würden: ein roter Ferrari, ein Landrover, ein silberner Alfa Romeo, ein Bagger…. Und sie konnten eine Ahnung davon entwickeln, was dieses Auto repräsentiert, welches Bedürfnis, welche Qualität, die im Leben vielleicht noch nicht ausreichend Platz hat.

 

Gibt es Stolpersteine beim Gebrauch von Symbolen?

  1. Symbole ermöglichen eine Flucht vor dem realen Leben. Manche Menschen verleiten sie dazu, sich nur noch mit ihrem Innenleben und der Welt ihrer Phantasie zu beschäftigen. In diesem Fall sollte man Symbole mit besonders viel Umsicht einsetzen. Sie sollen ja eher eine Brücke zwischen der inneren und der äußeren Realität bieten und nicht die gesamte Aufmerksamkeit in der Innenwelt halten.
  2. Es gibt auch den entgegengesetzten Fall: sehr extrovertierte oder sehr intellektuelle Menschen haben oft Schwierigkeiten, sich auf das Unbewusste und die daraus hervorströmenden Symbole überhaupt einzulassen. Sie nehmen in ihrer bewussten Persönlichkeit eine sehr objektive, rationale Haltung ein. In diesem Fall kann die Symbolarbeit erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnen, wenn die Grenze zwischen den eigenen bewussten und unbewussten Anteilen etwas durchlässiger geworden ist.
  3. Ferner besteht die Gefahr, die Bedeutung von Symbolen zu verabsolutieren. Sicher gibt es Bedeutungen, die kulturell sehr weit verbreitet sind. Aber immer gilt es zu schauen, was dieses bestimmte Symbol für diesen bestimmten Menschen zu diesem bestimmten Zeitpunkt aussagt. Denn ein und dasselbe Symbol kann für unterschiedliche Menschen eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben (Stichwort: Bedeutungsüberschuss). Ebenso kann sich die Bedeutung eines Symbols für einen Menschen im Laufe des Lebens verändern. Ich persönlich möchte sehr abraten von der Überbewertung von Symbollexika, die einem genau sagen möchten, welches Symbol (z.B. im Traum) wofür steht.
    Fatal kann auch ein wortwörtliches Übersetzen von Krankheitssymptomen in die Symbolsprache sein. So lässt sich nachlesen, Krebs stehe für Selbsthass, gepaart mit Sinnlosigkeit, Schnupfen dafür „die Nase voll zu haben“ und Migräne für einen Orgasmus im Kopf bei Menschen, die ansonsten keinen Orgasmus haben können. Abgesehen davon, dass man dadurch Menschen, die durch die Krankheit schon genug Leid erfahren nun auch noch das Gefühl vermittelt, sie seien irgendwie selbst Schuld an ihrer Situation und man dadurch das Leid noch unnötig vergrößert, liegt man oft auch völlig daneben. So sinnvoll es sein kann, einmal dem persönlichen Symbolgehalt von Körpersymptomen nachzuspüren, so sind Symbole eben nicht eindeutig, und sie haben im Zusammenhang mit den Ursachen von Krankheiten oft nur einen nachrangigen Erkenntnisgewinn. Vor allem sollte man nicht die Ursache einer Krankheit mit der Bedeutung verwechseln, die ein Mensch ihr gibt.

 

Wenn man diese Stolpersteine im Auge und die jeweilige Situation wach und achtsam im Blick hat, ist die Arbeit mit Symbolen von einem unschätzbaren Wert. Sie bündelt die seelische Energie, gibt ihr eine verstehbare Gestalt und ermöglicht uns, diese Energie zu lenken und zu nutzen für unser persönliches Wachstum.

 


Literatur
Neben eigenen Erfahrungen sind in diesen Text Erkenntnisse aus verschiedenen Büchern eingeflossen, die ich denjenigen empfehlen kann, die sich genauer mit dem Thema beschäftigen möchten:

 

1.) Roberto Assagioli: Handbuch der Psychosynthesis
2.) C.G. Jung: Der Mensch und seine Symbole
3.) Lutz und Anette Müller: Wörterbuch der analytischen Psychologie 4.) Verena Kast: Die Dynamik der Symbole
5.) Klaus-Uwe Adam: Therapeutisches Arbeiten mit Träumen

Autorin: Barbara Murakami, Shiatsupraktikerin und -lehrerin aus Düsseldorf. www.shiatsu-murakami.de